2008
19. 9.
Nun ist der Sommer vorbei - leider. Ich habe es genossen bei so richtigem
Sommerwetter mit Sonne und hohen Temperaturen viel unterwegs zu sein.
Auch dank des neuen Autos konnten wir schöne Ausflüge machen. Meinen
Geburtstag haben wir zum Beispiel mit der ganzen Familie im Zoo Rheine
gefeiert. Das war ein wirklich toller Tag, auch für die Kinder.
Nun sind es schon fünf Jahre seit der Diagnose her- und ich lebe immer noch.
Ja, wo stehe ich jetzt, wie ist mein Leben?
Als erstes muss ich sagen - mein Entscheidung für die Magensonde und den
Katheter hat mir mehr Lebensqualität gebracht und hat mir die Kraft für
andere, schöne Dinge geschenkt. Auch die nächtliche Atemunterstützung lässt
mich Kraftreserven für den Tag aufbauen. Ich kann nur sagen, ich würde wohl
nicht mehr leben ohne diese Massnahmen, denn ich wäre nicht mehr in der
Lage so viel Nahrung und Flüssigkeit zu mir zu nehmen, die mein Körper zum
überleben brauchte. Ausserdem ist dann die ständige Gefahr sich zu
verschlucken und daran vielleicht zu ersticken.
2016
ich drehe mich um und frage - wo ist 2015 geblieben? Gefühlt habe ich erst vor
kurzer Zeit unter den blühenden Kastanienbäumen gestanden. Oder ich bin bei
weit über 30 Grad durch die Felder gefahren.
Dabei war es ein schwieriges Jahr mit Höhen und Tiefen. Das letzte viertel Jahr
hat besonders tiefe Einschnitte gebracht.
Mein Mann war nach fast 5 Jahren Pflege von mir und auch seiner Eltern am
Ende seiner Kräfte, nein, darüber hinaus. Eine Reha von meinem Mann hat mich
dann wachgerüttelt. Eine Reha von 6-8 Wochen gibt es nicht einfach so. Ich war
in der Zeit wieder in der Kurzzeitpflege in "meinem" Pflegeheim. Hier komme ich
immer gut klar und habe mich immer wohl gefühlt. Was würde mir also fehlen
wenn ich hier leben würde? Klar, mein Mann, aber hätten wir nicht mehr
voneinander, wenn wir uns wieder als Partner sehen könnten und nicht als
Kranke und Pfleger? Ich bin dann letztendlich zu der Einsicht gelangt - ja, das
Pflegeheim ist die richtige Entscheidung!
Jetzt haben wir schon Januar und ich bin schon 3 Monate hier - und habe es
nicht bereut. Mein Mann und ich verbringen jeden Tag Zeit miteinander, frei von
ständigen Pflichten. Das tut uns beiden und unserer Beziehung gut!
Meine Symptome und die Entwicklung
Christel Herrmann
© Christel Herrmann 2015
Made with MAGIX
Die ersten Symptome machten sich schon im Jahr 2008 bemerkbar ohne das
ich es registriert habe. Erst im Rückblick wurde mir das klar.
2008 ging mein Mann in Ruhestand und wir wollten noch mal richtig
durchstarten. In dem Jahr waren wir auch viel unterwegs. Für unsere Fitness
taten wir auch etwas. Fast jeden Morgen liefen wir eine Runde von circa 4
Kilometern. Oder wir fuhren eine Runde von etwa 20 Kilometern mit dem
Fahrrad. Eigentlich hätte sich dabei ein Trainingseffekt zeigen müssen. Bei mir
trat das nicht ein. Im Gegenteil, ich ermüdete schneller.
2009
Anfänglich habe ich nur Irritationen bei mir festgestellt.
Angefangen hat es mit der rechten Hand. Die war irgendwie nicht mehr so
beweglich wie gewohnt. Das war im Frühjahr 2009. Der Orthopäde tippte auf
„Maushand“. Ich sollte weniger am Rechner machen und mir ein spezielles
Mousepadbesorgen. OK. Aber erst ging es in den Urlaub nach Norwegen.
Die Landschaft gigantisch, das Wetter super. Einige Wanderungen standen auf
unserem Plan. Als erstes stand der Preikestolen (Priesterstuhl), ein Granitfelsen
der 600 m steil zum Fjord abfällt, auf unserer Liste. Es ging über blanke Felsstücke,
riesige Gesteinsbrocken und Geröll.
Der Rückweg war anstrengend. Ich war fertig, kaputt.
Als dann der Parkplatz in Sicht kam, hatte ich das Gefühl, als ob meine
Beine nicht mehr vorwärts gehen könnten. Schritt für Schritt - für Schritt - für Schritt.
Am Auto angekommen, konnte ich mich nur noch auf den Sitz plumpsen lassen.
Es war ein Gefühl vollkommener Kraftlosigkeit.
Nicht einfach nur kaputt sein, nein, total leergelaufen. Nicht einmal
„Reserve“ stand zur Verfügung.
So ein Gefühl hatte ich noch nie erlebt.
Im Herbst bemerkte ich dann erstmals ein Zucken der Muskeln im rechten Unterarm.
Außerdem ließ die Kraft der rechten Hand merklich nach.
2010
Meine Ärztin veranlasste dann Anfang 2010 einige Untersuchungen.
Zwei Bandscheibenvorfälle wurden gefunden. Die sollten aber nicht für die
Kraftlosigkeit verantwortlich sein.
Ein weiteres MRT von meinen Kopf wurde gemacht.
Aber auch hier: keine Besonderheiten. Nichts, was meine Schwierigkeiten
erklären könnte.
Meine Hausärztin schickte mich nach Osnabrück in die Neurologie der
Paracelsusklinik. Neben anderen Untersuchungen wurde dann noch eine
Lumbalpunktion gemacht. Nichts. Lange hat sich die Ärztin dann mit mir
unterhalten. Sie vermutete eine schwerwiegende Erkrankung des Nervensystems,
wollte aber unbedingt eine zweite Meinung dazu hören.
Eine Woche verbrachte in der Uniklinik Münster. Das Ergebnis der zahlreichen
Untersuchungen: ALS. Eine nur durch Ausschlussverfahren nachweisbaren
Erkrankung des Nervensystems.
Im Oktober stellten sich Gangunsicherheiten und erste Stürze ein.
2011
Ich beginne mit Physio- und Ergotherapie, lerne vorhandene Fähigkeiten zu
erhalten oder umzustellen. Geh- und Falltraining stellen sich später noch als
sehr wichtig heraus.
Im April, Mai und Juni falle ich mehrfach. Ich muss mich auf ein Leben im
Rollstuhl gewöhnen. Aber ein Knochenbruch wäre nicht gut.
Ich kann nicht mehr schwimmen. Mein Körper dreht sich unkontrollierbar und
der Kopf gerät immer unter Wasser.
Im Oktober kommt mein E-Rollstuhl und gibt mir ein wenig Selbstständig wieder.
Das Sprechen wird zum Jahresende schwieriger. Logopädie kommt als Therapie
dazu. Ich ermüde schnell.
2012
Ein Aussenaufzug wird montiert. Endlich muss ich nicht mehr die Treppe
hinauf.
Viele Körperfunktionen laufen nicht mehr von allein ab. Vielmehr muss ich
sie meinem Körper willentlich befehlen, muss vieles denken, was sonst
automatisch abläuft. Mein Körpergefühl trügt oft. Ich muss hinsehen ob
der Fuß tatsächlich da ist, wo ich ihn spüre.
Im Sommer bekomme ich nach Untersuchungen im Schlaflabor ein Gerät
zur nächtlichen Beatmung. Plötzlich wache ich morgens ausgeruht und ohne
Kopfschmerzen auf.
Oktober. Ich kann mich im Bett nicht mehr allein umdrehen und bekomme
ein Pflegebett.
2013
Ab Februar kommt morgens eine Pflegekraft ins Haus um mir beim Start
in den Tag zu helfen. Duschen, Haare waschen, abtrocknen und mich
anziehen kann ich nicht mehr.
Ab Mai benutze ich den E-Rollstuhl auch in der Wohnung.
Meine Beine tragen mich noch, wenn ich mich festzuhalten kann, ein paar
Minuten. Essen kann ich kaum noch selbstständig, trinken nur mit einem
Strohhalm. Der rechte Arm ist fast vollständig ohne Funktion. Die linke
Hand hat viele Funktionen übernommen. Noch kann ich die Computermouse
mit ihr bedienen. Im November bekomme ich einen Computer den ich mit den
Augen bedienen kann. Das erfordert aber viel Konzentration und Übung. Ein
sicheres arbeiten wird noch lange dauern.
2014
Im Februar bekomme ich auf eigenen Wunsch einen Dauerkatheter und eine
Magensonde. Das essen und die Toilettengänge wurden einfach zu anstrengend.
Ich will mir die Kraft lieber für schöne Dinge aufsparen.
Ich muss oft husten und bekomme einen “Hustenassistenten”, ein Gerät das
mir hilft abzuhusten und durchzuatmen.
Im Mai gehe ich das erste mal in die Kurzzeitpflege. Ich fühle mich wohl, mein
Mann kann mal ein paar Tage ausspannen.
Herbst - ich kann fast nichts mehr allein. Abends kommt jetzt auch eine
Pflegekraft um mich bettfertig zu machen.
Anfang November bekomme ich eine leichte Erkältung. Ich muss ständig
husten, was ungemein anstrengend ist. Außerdem tut mir der Brust- und
Bauchraum weh. Gerüche, Temperaturwechsel, die trockene Heizungsluft
oder der kleinste Krümel im Hals, lösen heftige Hustenatacken aus.
Besonders schlimm sind Parfümwolken.
Ich habe gerne Besuch, aber mit ansteckenden Erkrankungen, und sei
es nur Schnupfen, bitte den Besuch auf später verschieben!
2015
Ich kann es kaum fassen. Schon wieder ein Jahr herum und mich gibt’s noch.
Endlich ist der Husten weg und ich kann wieder besser atmen.
Ende Januar war ich wieder im Schlaflabor. Die Werte haben sich nur
unwesentlich verschlechtert und ich durfte schon nach einer Nacht wieder
nach Hause.
Ich möchte hier auch mal einen Dank aussprechen. Mindestens 2 mal
im Jahr muss ich ja nach Münster in die Uniklinik ins Schlaflabor. Egal
mit wem ich es auf der Station zu tun habe, ich fühle mich dort wirklich
gut aufgehoben, angenommen und akzeptiert. Als Mensch angenommen,
nicht nur als Kranke.
Februar 2015
Ich mache wieder Ferien
Wir haben schon wieder Februar und ich bin in Kurzzeitpflege. Ich vertreibe
mir die Zeit mit Musik hören, netten Gesprächen, fernsehen und leben.
Manchmal denke ich doch, dass es gut wäre einfach träumend wegzudriften
und nicht wieder aufzuwachen. Das wäre ein schöner Tod. Dennoch empfinde
ich mein Leben durchaus lebenswert.
Februar und doch ein bisschen wie Frühling. Ich bin draussen und atme durch.
Schneeglöckchen, Krokusse und Winterling leuchten auf der Rasenfläche,
während die Sonne vom blauen Himmel strahlt. Ich habe mir einen windstillen
und menschenleeren Platz gesucht und träume. Nicht von einem Wunder,
das mich wieder gesund macht, nein, ich denke an Erlebnisse und
Begebenheiten aus der Vergangenheit. Aber immer mit einem Lächeln,
manchmal nur innerlich, weil die äussere Mimik nicht funktioniert,
die innere immer. Die sieht man eben nur schlecht.
Jetzt, wo die Sonne wieder höher steigt, steigt auch mein Stimmungs-
barometer.
Ich liebe mein Leben. Trotz der Erkrankung, oder vielleicht wegen der
Erkrankung. Klar bin ich auch mal traurig oder wütend, weil ich etwas
nicht kann oder nicht mehr kann.
Aber eigentlich ist das verschwendete Energie.
März
Mein linker Oberschenkel schmerzt heftig und trägt mich nicht mehr. Das
rechte Bein übernimmt das gesamte Gewicht. Gehen funktioniert so natürlich
gar nicht. Das Umsetzen passiert jetzt mit Hilfe einer Drehscheibe.
Ostern
Der Arzt im Krankenhaus fragte, ob ich immer so stürmisch wäre bei der Oster-
eiersuche. Da musste ich doch schon wieder lachen. Was war passiert?
Wir hatten Ostersonntag mit der Familie den Nachmittag verbracht und nun
wollte ich nach Hause. Dann einen Moment nicht aufgepasst, eine kleine Mauer
übersehen und schon lag ich im Beet. Ich war mit Gesicht nach unten genau
zwischen 2 Rosen und mehreren Steinen relativ sanft im Grün gelandet, das
mir bis über die Ohren reichte. Wenn das keine Punktlandung war!
Der Krankenwagen hat mich dann ins Krankenhaus gebracht, (danke nochmal
an die beiden Sanis, die kompetent und ruhig alles gemanagt haben!) wo ich
untersucht wurde. Aber außer einer blutigen Nase und ein paar Prellungen
und einem gehörigen Schrecken, für alle, war nichts passiert. Glück gehabt!
Mai
Wo stehe ich heute, fast fünf Jahre nach der Diagnose ALS? Damals konnte ich
mir nicht vorstellen so zu leben, wie ich heute lebe, überhaupt noch zu leben.
Aus anfänglichem Zweifel wurde Verzweiflung wurde Lebenswille. Vieles kann
ich heute nicht mehr, brauche 24 Stunden Pflege, künstliche Ernährung,
zeitweise Unterstützung beim atmen und und und. Aber mein Kopf ist klar,
meine Augen haben gelernt zu schreiben und durch den Rollstuhl bin ich noch
mobil. Zwar ist alles anstrengend, auch wenn ich nur sitze und augenscheinlich
nichts tue, meine Muskeln arbeiten unkontrollierbar und die Atmung ist an-
strengend, so als ob man einen steilen Weg herauf laufen würde.
Und das immer, Tag für Tag. Meine Beine können nicht mehr wirklich laufen,
die Befehle kommen nicht mehr an, die Nervenbahen sind zerstört oder
unterbrochen. Aber ich habe immer noch den Willen zu kämpfen, noch einige
Zeit hier zu bleiben, zu leben!
Mai 2015
Juchhu, ich bin das erste mal in meinem Leben stolze Autobesitzerin. Der
Gedanke daran rumorte schon länger in meinem Kopf, denn das Umsteigen
in unser Auto geht nur noch unter grosser Anstrengung. Das kostet einfach zu
viel Kraft. Mir schwebte ein Auto vor, in das ich mitsamt meinem E-rolltuhl
hinein fahren kann. Mein Mann greift den Gedanken gleich auf. Lange Rede
kurzer Sinn - im Nachbarort Ladbergen werden wir fündig. Eine Probefahrt mit
zwei Autos und wir entscheiden uns für einen Fiat doblo. Der ist umgerüstet und
hat eine Rampe und Rückhaltesysteme für den Rollstuhl und für mich. Ich hüpfe
ein bisschen herum - na ja ich, es sind wohl nur Millimeter, aber immerhin. Jetzt
können wir wieder Ausflüge unternehmen!