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Christel Herrmann
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Ein Bericht in der WN in einer Serie über Pflege vom August 2014
Von der Kraft und Freiheit des Geistes 60-jährige Lengericherin ist an ALS erkrankt und wird von ihrem Ehemann im eigenen Haus betreut / Sie schreibt Bücher und geht alleine einkaufen / „Ich bin glücklich“, sagt sie                       Da lugt sie hinter einem Troll hervor (r.): 2009 war es, da Christel und Jürgen Herrmann in Norwegen unterwegs waren. Zu jener Zeit konnte die heute 60-Jährige noch laufen. Inzwischen ist sie auf den Rollstuhl angewiesen, hat ALS etliche Körperfunktionen lahmgelegt. „Meine Frau ist körperlich beeinträchtigt“, stellt ihr Mann klar. „Geistig ist sie voll auf der Höhe.“ Foto: Jürgen Peperhowe
Von Julia Gottschick LENGERICH. Christel Herrmann fühlt sich frei. „Ich bin glücklich“, sagt die 60- Jährige, und es dauert ein bisschen, bis sie die Worte über die Lippen gebracht hat. Das Sprechen fällt ihr schwer, seit sie an ALS erkrankt ist. Die Krankheit lähmt ihre Muskeln und fesselt die Lengericherin an den Rollstuhl. Wenn sie etwas nicht ist, dann frei. Rein äußerlich gesehen. Christel Herrmanns Tagesablauf Ist ein enges Korsett an Dingen, die getan werden müssen, damit sie (über-)leben kann. Aufgaben, die ihr Mann Jürgen im eigenen Heim absolviert. Stunde für Stunde sorgt er für ihre Hygiene, ihre Ernährung, für genug Wasser zum Trinken. Dabei kommen sich zwei Menschen sehr viel näher als sonst in einer Ehe. „Ich mache das inzwischen automatisch und beame mich gedanklich weg“, sagt der 66-Jährige schonungslos aufrichtig. „Anders wäre das nicht zu schaffen.“ Nachts um drei geht es los. Dann muss Christel Herrmann im Bett gedreht und ihre Atemmaske gereinigt werden. Gegen 7.20 Uhr wendet ihr Mann sie in die Seitenlage, schließt den Urinbeutel an und gibt ihr Wasser über die Magensonde. So geht es den Tag über weiter. Nur morgens hilft ein Pflegedienst beim Aufstehen. Als die zweifache Mutter an der Neurologie der Uniklinik Münster die Diagnose bekam, 2010 war das, „da war das irgendwie unwirklich“, sagt Jürgen Herrmann. ALS – eine Krankheit, bei der die Lebensdauer auf drei bis fünf Jahre reduziert wird. Eine, bei der keine Aussicht auf Heilung besteht, für die es keine Medikamente gibt. „Man kann nur Mittel geben gegen die Nervenschmerzen, gegen die Stimmungstiefs.“ Nach dem Gespräch am UKM fuhr Herrmann mit seiner Frau den Schifffahrter Damm runter – und hielt auf dem Parkplatz des alten Postgebäudes. „Ich bin mit dem Wagen direkt unter die überhängenden Büsche gefahren. Und dann haben wir geheult wie verrückt.“ Der Diplom-Ingenieur ist ein Mann, der sein Leben minutiös verplant hat. Als er 31 war, kamen seine Frau und er überein: Er würde bis 60 arbeiten, sie ihre Berufung als Fotografin zugunsten der Familie zurückstellen. „Danach wollten wir reisen.“ Genauso geschah es: Im ersten Jahr seines Ruhestands waren beide ununterbrochen unterwegs in der Welt. Bald indes stellten sich bei ihr erste Symptome ein: Lähmungen, Muskelschwäche, Spastiken. ALS wirkte wie der berühmte Stock in den Speichen. Irgendwann war an Mobilität, an Zukunft nicht mehr zu denken. Heute leben Jürgen und Christel Herrmann für den Augenblick, „in dem eine Blüte mehr zählt als ein Blumenfeld“, wie der 66-Jährige sagt. Tabus gibt es zwischen ihnen nicht mehr. Auch das Thema Tod klammern sie nicht aus. Gleich nach der Diagnose besuchten sie einen Psychologen, spielten Alltagssituationen durch. „Sie schaffen das nicht allein hat  die Neurologin am UKM klargestellt. Und es half: Fühlte sich die extrem introvertierte Christel Herrmann früher oft blockiert, wie in sich eingeschlossen ihrem Mann gegenüber („ich brauchte Tage, um ihm zu sagen, wenn mich was störte“), ist sie heute freier in der Kommunikation. So paradox das klingen mag für jemanden, der auf einen Schreibcomputer angewiesen ist, der über die Augen bedient wird. „Wir mailen uns“, verrät Jürgen Herrmann. „Da bleibt Zeit, über die Argumente des anderen nachzudenken.“ Für ihn ist die Pflege eines Angehörigen im eigenen Heim nichts Neues. Bereits seine demente Mutter und auch der Vater blieben bis zuletzt im Haus. „Eine Selbstverständlichkeit“, wie der Lengericher betont.  Was er jedoch erst mit seiner Frau lernte, ist: ihr Freiräume zu gewähren. Etwa, wenn sie allein mit ihrem Hightech- Rollstuhl durch den Ort fährt, um Kleidung zu kaufen. „Neulich kam sie mit fünf neuen Hosen zurück“, erzählt er – und bei dem Wort „fünf“ lachen beide los. Wer sie so im Miteinander erlebt, versteht, warum Christel Herrmann sagt, sie sei glücklich. Eine starke Frau, die jedem ihrer Enkel eine eigene Geschichte geschrieben hat. „Wenn die uns besuchen, bin ich der Tobe-Opa“, erklärt Jürgen Herrmann. „Meine Frau kann nicht mit ihnen knuddeln oder sie auf den Schoß nehmen.“ Damit auch an sie Erinnerungen bleiben, hat sie jedem Kind ein eigenes Buch geschrieben. „Diese Freiheit“, sagt sie, „die hab ich mir genommen.“
Von der Kraft und Freiheit des Geistes 60-jährige Lengericherin ist an ALS erkrankt und wird von ihrem Ehemann im eigenen Haus betreut / Sie schreibt Bücher und geht alleine einkaufen / „Ich bin glücklich“, sagt sie                       Da lugt sie hinter einem Troll hervor (r.): 2009 war es, da Christel und Jürgen Herrmann in Norwegen unterwegs waren. Zu jener Zeit konnte die heute 60-Jährige noch laufen. Inzwischen ist sie auf den Rollstuhl angewiesen, hat ALS etliche Körperfunktionen lahmgelegt. „Meine Frau ist körperlich beeinträchtigt“, stellt ihr Mann klar. „Geistig ist sie voll auf der Höhe.“ Foto: Jürgen Peperhowe
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